Moskenstraumen
Kunst und Zeitgeist

28. Januar 2011

Ich glaube nicht an die Postmoderne. Die radikale Expression des kulturellen und gesellschaftlichen Pluralismus, die Betonung der individualistischen Lebensweise wie auch das ewige Zitieren, Referenzieren und Selbstreferenzieren sind der häßliche Ausdruck einer allgemeinen Laxheit, die keine Normen und keine Nomenklaturen kennt. Das Fehlen eines ästhetischen Codex, der als Maßstab für jeden Bereich des kulturellen Schaffens und Lebens gelten kann, ist ein Hindernis für die Ausbildung eines guten Geschmacks. Eine Kunst ohne Eigenlogik ist aussichtslos; solange übergeordnete Modelle fehlen, ist die künstlerische Freiheit nur eine scheinbare: Die unübersichtliche Vielfalt der Möglichkeiten lähmt die Kunst.
– Theis von Klein

26. Januar 2011

Es war Hegel, der die paradoxe Formel des Kunstwerks im ästhetischen Regime der Kunst aufgestellt hat: das Werk ist die materielle Inskription einer Differenz des Denkens zu sich. Dies beginnt mit der erhabenen Schwingung des Denkens, das vergeblich seinen Verbleib in den Steinen der Pyramide sucht; es setzt sich fort in der klassischen Umklammerung der Materie mit einem Denken, dem es nur um den Preis seiner eigenen Schwäche gelingt, sich zu verwirklichen; weil die griechische Religion der Innerlichkeit beraubt ist, kann sie sich idealerweise in der Perfektion der Gottesstatue ausdrücken: es ist schließlich die Fluchtlinie der gotischen Turmspitze, die dem unerreichbaren Himmel entgegenstrebt und so den Zeitpunkt ankündigt, an dem – das Denken ist endlich bei sich –, die Kunst aufgehört haben wird, ein Ort des Denkens zu sein. Zu sagen, dass die Kunst widersteht bedeutet also, dass sie ein ständiges Versteckspiel zwischen der Kraft der sinnlichen Äußerung der Werke und ihrer Bedeutungskraft ist. Nun hat dieses Versteckspiel zwischen dem Denken und der Kunst aber eine paradoxale Konsequenz: die Kunst ist Kunst – sie ist widerständig in ihrer Natur als Kunst, insofern sie nicht das Produkt des Willens, Kunst zu machen ist, insofern sie etwas anderes als Kunst ist.
– Jacques Rancière: "Ist Kunst widerständig?" (2004)

24. Januar 2011

In der Didaktik verknüpft sich die Philosophie mit der Kunst als erzieherische Aufsicht über ihren extrinsischen äußeren Bestimmungsort in Bezug auf das Wahre. In der Romantik verwirklicht die Kunst im Bereich der Endlichkeit die gesamte subjektive Erziehung, die zur philosophischen Unendlichkeit der Idee führt. In der Klassik fängt die Kunst das Begehren ein und erzieht zu dessen Transfer, indem sie ein Objekt als Schein beurteilt.
– Alain Badiou: "Kleines Handbuch zur In-Ästhetik" (1998)

22. Januar 2011

Die Pünktlichkeit, Berechenbarkeit, Exaktheit, die die Komplikationen und Ausgedehntheiten des großstädtischen Lebens ihm [dem Großstädter] aufzwingen, steht nicht nur in engstem Zusammenhange mit ihrem geldwirtschaftlichen und ihrem intellektualistischen Charakter, sondern muß auch die Inhalte des Lebens färben und den Ausschluß jener irrationalen, instinktiven, souveränen Wesenszüge und Impulse begünstigen, die von sich aus die Lebensform bestimmen wollen, statt sie als eine allgemeine, schematisch präzisierte von außen zu empfangen.
- Georg Simmel: "Die Großstädte und das Geistesleben" (1903)

9. Januar 2011

In der dörflichen Gemeinschaft hörten Personen auf, andere zu sein, wohin gegen das Stadtleben die Zugehörigkeit von Personen und Gruppen zu Räumen und Institutionen fördere ohne darüber zur Einheit zu verschmelzen. Es existierten vielfältige, auch wechselnde Gemeinschaften, so dass jeder immer sich wieder in der Position des Zugehörigen und des Fremden befände. Für [Iris Marion] Young ist Differenz etwas Erotisches, weil es bedeutet, aus der eigenen Routine herausgezogen zu werden, das Neue, Fremde, Überraschende zu treffen und Interesse an Menschen zu entwickeln, die als anders erfahren werden. Die Erotik der Stadt entspringe aus der Ästhetik ihrer materiellen Existenz: aus Lichtern, Gebäuden und Architekturstilen, aus der Differenz zwischen den dort lebenden Menschen sowie aus der 'sozialen und räumlichen Unerschöpflichkeit'. Für Ash Amin und Nigel Thrift ist die Stadt schließlich ein Fokus und eine Produzentin von Erfahrung und Begierde. Nicht nur, dass die Stadt alle Sinne reize, sie schaffe unerwartete Kombinationen aus sinnlichen Erfahrungen und damit eine Vielfalt an Körpererfahrungen.
– Martina Löw: "Die Soziologie der Städte"

28. Dezember 2010

Bald zwingen sie [die Kunstrichter] die Poesie in die engeren Schranken der Malerei; bald lassen sie die Malerei die ganze Sphäre der Poesie füllen. Alles was der einen Recht ist, soll auch der anderen vergönnt sein; alles was in der einen gefällt oder mißfällt, soll notwendig auch in der anderen gefallen oder mißfallen; und voll von dieser Idee, sprechen sie in dem zuversichtlichsten Tone die seichtesten Urteile, wenn sie, in den Werken des Dichters und des Malers über einerlei Vorwurf, die darin bemerkten Abweichungen von einander zu Fehlern machen, die sie dem einen oder dem andern, nach dem sie entweder mehr Geschmack an der Dichtkunst oder an der Malerei haben, zur Last legen.
Ja diese Aftercritik [d.h. "Pseudokritik"] hat zum Teil die Virtuosen selbst verführet. Sie hat an der Poesie die Schilderungssucht, und in der Malerei die Allegoristerei erzeuget; indem man jene zu einem redenden Gemälde machen wollen, ohne eigentlich zu wissen, was sie malen könne und solle, und diese zu einem stummen Gedichte, ohne überlegt zu haben, in welchem Maße sie allgemeine Begriffe ausdrücken könne, ohne sich von ihrer Bestimmung zu entfernen, und zu einer willkürlichen Schriftart zu werden.
- Gotthold Ephraim Lessing: "Laokoon"

26. Dezember 2010

Die Haltung des Magiers, der einen Kranken durch Auflegen der Hand heilt, ist verschieden von der des Chirurgen, der einen Eingriff in den Kranken vornimmt. Der Magier erhält die natürliche Distanz zwischen sich und dem Behandelten aufrecht; genauer gesagt: er vermindert sie - kraft seiner aufgelegten Hand - nur wenig und steigert sie - kraft seiner Autorität - sehr. Der Chirurg verkehrt umgekehrt: er vermindert die Distanz zu dem Behandelten sehr - indem er in dessen Inneres dringt - und er vermehrt sie nur wenig - durch die Behutsamkeit, mit der seine Hand sich unter den Organen bewegt. Mit einem Wort: zum Unterschied vom Magier (der auch noch im praktischen Arzt steckt) verzichtet der Chirurg im entscheidenden Augenblick darauf, seinem Kranken von Mensch zu Mensch sich gegenüber zu stellen; er dringt vielmehr operativ in ihn ein. - Magier und Chirurg verhalten sich wie Maler und Kameramann. Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kameramann dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein. Die Bilder, die beide davontragen, sind ungeheuer verschieden. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetz zusammen finden.
- Walter Benjamin: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit"

24. Dezember 2010

Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks emanzipiert dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual. Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks. Von der photographischen Platte z.B. ist eine Vielheit von Abzügen möglich; die Frage nach dem echten Abzug hat keinen Sinn. In dem Augenblick aber , da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik.
- Walter Benjamin: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit"

21. Dezember 2010

Die Echtheit einer Sache ist der Inbegriff alles von Ursprung her an ihr Tradierbarem, von ihrer materiellen Dauer bis zu ihrer geschichtlichen Zeugenschaft. [...] Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.
- Walter Benjamin: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit"

16. Dezember 2010

Natürlich gibt es Ausnahmen, aber das Gros der Architektur, gerade die der Wohnungsbauten, hat heute überhaupt keine ästhetische Qualität mehr. Und dann wundert man sich über Graffiti und Zerstörung. Aber, Entschuldigung, vor dieser „Stadtmöblierung“, wie das immer so schön heißt, kann man ja gar kein Respekt mehr haben, das kannst du nur noch zerstören. Oder eben verstecken Diese Umgebung, diese kalte, funktionale Architektur, bietet überhaupt keinen Schutzraum. Und in fünf Jahren geht sie von selbst kaputt.
- Marcel Odenbach (gesamtes Interview)