Moskenstraumen
Kunst und Zeitgeist

28. Dezember 2010

Bald zwingen sie [die Kunstrichter] die Poesie in die engeren Schranken der Malerei; bald lassen sie die Malerei die ganze Sphäre der Poesie füllen. Alles was der einen Recht ist, soll auch der anderen vergönnt sein; alles was in der einen gefällt oder mißfällt, soll notwendig auch in der anderen gefallen oder mißfallen; und voll von dieser Idee, sprechen sie in dem zuversichtlichsten Tone die seichtesten Urteile, wenn sie, in den Werken des Dichters und des Malers über einerlei Vorwurf, die darin bemerkten Abweichungen von einander zu Fehlern machen, die sie dem einen oder dem andern, nach dem sie entweder mehr Geschmack an der Dichtkunst oder an der Malerei haben, zur Last legen.
Ja diese Aftercritik [d.h. "Pseudokritik"] hat zum Teil die Virtuosen selbst verführet. Sie hat an der Poesie die Schilderungssucht, und in der Malerei die Allegoristerei erzeuget; indem man jene zu einem redenden Gemälde machen wollen, ohne eigentlich zu wissen, was sie malen könne und solle, und diese zu einem stummen Gedichte, ohne überlegt zu haben, in welchem Maße sie allgemeine Begriffe ausdrücken könne, ohne sich von ihrer Bestimmung zu entfernen, und zu einer willkürlichen Schriftart zu werden.
- Gotthold Ephraim Lessing: "Laokoon"

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